Der Wolf als Vorbild in der Hundeerziehung?
Lange Zeit wurde der Wolf herangezogen, wenn es um die Regeln beim Zusammenleben zwischen Mensch und Hund ging und manche Hundetrainer sind auch heute noch der Meinung, dass diese Regeln auch beim Hund gültig sind.
Das Streben nach Rudelführung und die Konkurrenz um Dominanz ist eine häufige Argumentation dieser Trainer warum dem Hund viele Dinge unter keinen Umständen erlaubt werden sollte (z.B. der Hund darf keine erhöhte Liegeposition haben, der Mensch geht immer als erstes durch die Tür, der Hund wird immer als letztes mit Nahrung versorgt, das Fressen muss häufig mal weggenommen werden, der Hund muss sofort unterworfen werden, wenn er sich aufmüpfig verhält usw.).
Inzwischen sind wir aber schlauer: Abgesehen davon, dass das Verhalten von Wölfen gar nicht mehr 1:1 auf Hunde übertragen werden kann, wissen wir inzwischen, wie es in Wolfsrudeln wirklich zugeht. Die Verbreitung neuerer Erkenntnisse über das Zusammenleben von Wölfen verdanken wir vor allem dem Amerikaner David Mech.
Und dabei ist vieles anders, als man denkt …
Veraltete Theorien über Wölfe sind beispielsweise:
- Ein dominanter Alpharüde und eine dominante Alphahündin führen das Rudel an.
- Es herrscht ständige Konkurrenz untereinander und die Rangordnung muss immer verteidigt werden.
- Wölfe sind untereinander äußerst aggressiv und gewalttätig
Die ganze Dominanztherorie hat nämlich einen Haken: Die Beobachtungen, aus denen die bisherigen Erkenntnisse hervor gingen, sind an Wölfen gemacht worden, die in Gefangenschaft lebten und nicht an Wölfen die in freier Wildbahn leben.
Wolfsgruppe in Gefangenschaft: Die Wölfe sind meist nicht miteinander verwandt sondern die Gruppen werden von Menschen zusammengesetzt. Sie leben fast immer in relativ beengten Gehegen und können bei Konflikten nicht abwandern. Keine guten Voraussetzungen für eine friedliche Wohngemeinschaft. Dadurch ist es auch nicht verwunderlich, dass Stresslevel und Aggressionsniveau entsprechend hoch sind.
Wolfsrudel in Freiheit: Das Wolfsrudel besteht stets aus Familienverbänden, mit Wolfseltern und ihrem Nachwuchs in verschiedenen Altersstufen. Und genau so wie in einer Familie geht es in diesen Rudeln auch zu: Die “Leitwölfin” und der “Leitwolf” sind keinesfalls strenge Autoritäten, die ihren Rang gegenüber der Konkurrenz verteidigen, sondern nichts anderes als liebevolle und fürsorgliche Eltern. Die Größe von Territorien von Wölfen in Freiheit beträgt zwischen 20 und 1000 km2 und bei Konflikten innerhalb der Gruppe können die Jungwölfe abwandern.
Das Zusammenleben im Wolfsrudel in Freiheit ist eine sehr friedliche Sache: Der Nachwuchs hat viele Freiheiten und genießt vielfältigste Privilegien: Die jungen Wölfe dürfen wild spielen, ohne zurecht gewiesen zu werden. Sie dürfen zu den Erwachsenen gehen und um Futter betteln. “Ranghoch” zu sein, hat in erster Linie etwas damit zu tun, sich um das Wohlergehen der Rudelmitglieder zu kümmern.
Zurechtweisungen kommen im Wolfsrudel seltener vor als bis dato angenommen. Und wenn verläuft dies im Regelfall gewaltfrei und so gut wie ohne Körperkontakt. Falls eine Zurechtweisung nötig ist, knurrt das Elterntier. In aller Regel reicht das aus. Wirkt das wider Erwarten nicht, öffnet der erwachsene Wolf den Fang, legt ihn ganz leicht über den Fang des Wolfskindes und drückt ihn leicht nach unten. Dies alles ist völlig schmerzlos und gewaltlos und die einzige – und darüber hinaus äußerst seltene – Art, wie Wölfe ihre Nachkommen korrigieren.
Wenn sich ein Wolf einem anderen unterwirft, tut er das freiwillig. Erzwungen wird eine Unterwerfung im Rudelalltag nicht. Freiwillige Unterwerfungsgesten fördern den freundlichen Umgang miteinander und bestehen häufig aus dem Lecken der Schnauze des anderen Tieres (was übrigens häufig im Zusammenhang mit Futterbetteln auftritt und vom anderen Tier dadurch beantwortet wird, dass es Futter hervorwürgt) oder dem sich auf die Seite oder auf den Rücken Drehen, damit das andere Tier an den Genitalien oder in der Leistengegend schnuppern kann.
Insgesamt sind Wölfe Meister im Konfliktlösen. Sie vermeiden Auseinandersetzungen, wann immer es geht. Ernstkämpfe sind die absolute Ausnahme.
Und was bedeutet das alles nun für das Zusammenleben mit unseren Hunden?
Ganz abgesehen davon, dass es widerlegt ist, dass Hunde uns Menschen überhaupt in irgendeine Art von Rangordnung einbeziehen (wir sind schließlich Menschen und keine Caniden), müssen wir folgendes im Hinterkopf behalten, wenn wir an das Zusammenleben mit unseren Hunden denken:
Es gibt im Rudel keine verteidigte und ständig umkämpfte Rangordnung, sondern eine Familienstruktur!
Die Rudelführer sind Eltern und zeichnen sich durch große Toleranz, Freundlichkeit und Fürsorglichkeit gegenüber ihren Nachkommen aus. Ihr Hauptanliegen ist es, ihnen Schutz zu bieten und dafür zu sorgen, dass es ihnen gut geht.
Ranghohe Tiere sind absolut souverän. Niemals gehen von ihnen unberechenbare Gewaltaktionen aus. Sie bedrohen auch keine Rudelmitglieder.
Nur im absoluten Ausnahmefall kommt es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Wenn dann geht es meist um Leben und Tod.
Übrigens werden deshalb auch der so genannte “Alphawurf” oder das “Nackenschütteln” als Disziplinierungsmaßnahme in der Hundeerziehung vom Hund als Tötungsabsicht interpretiert – mit dem Risiko entsprechender Gegenwehr – ganz abgesehen von dem Vertrauensverlust in den anscheinend unberechenbaren Menschen.
Unterwerfungsgesten werden im alltäglichen Umgang miteinander immer freiwillig gezeigt und niemals erzwungen.
Wenn man diese Tatsachen kennt und verstanden hat, wird auch klar, dass ein Hund, der sein Futter verteidigt oder andere Individuen mit Aggression begegnet zwar Probleme hat, diese aber keinesfalls mit Dominanz oder Rang zu tun haben. Meist entstehen diese Probleme nämlich durch eine Fehlverknüpfung oder schlechte Erfahrungen, welche oftmals darauf schließen lassen, dass der Mensch einen Fehler begangen hat.
„Rangordnungsprobleme” sind also kein Erklärungsansatz für ungewünschtes Verhalten. Ich möchte hier nur als Beispiel anführen, wie sich stattdessen die eine oder andere Verhaltensweise, die allzu häufig als“Dominanzproblem” betitelt wird, erklären lassen könnte. Die Betonung liegt auf KÖNNTE, denn pauschalisieren lässt sich nichts – und Universalerklärungen gibt es nicht.
- Der Hund, der gerne auf erhöhten Plätzen liegt, strebt nicht nach Macht, sondern liebt vermutlich den Überblick und (besonders, wenn es sich dabei um das Sofa handelt) den Komfort.
- Der Hund, der immer als Erstes durch die Haustür stürmt … ist deshalb kein “Alphatier”. Er kann es vermutlich kaum erwarten, dass es rausgeht – und ist von seinem Haltern einfach nicht dazu erzogen worden, seine Ungeduld etwas zu zügeln. Nicht sein Versäumnis, sondern das des Menschen.
- Der Hund, der ab und an nicht gehorcht… hat häufig schlichtweg zu wenig geübt. Damit alles unter jeder Ablenkung klappt, ist viel Training erforderlich! Und wer ist dafür verantwortlich, dass geübt wird? Na, Sie wissen es schon… Ihr Hund auf jeden Fall nicht.
- Der Hund, der sein Futter verteidigt … ist kein Tyrann, sondern hat meist schlichtweg Angst, etwas weg genommen zu bekommen. Oft resultiert das aus schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit – und zwar mit uns Menschen!
- Der Hund, der Artgenossen angiftet … ist meist ein armes Würstchen mit sozialen Defiziten. Dass er Angst oder Wut gegenüber Artgenossen empfindet, können häufig wir Menschen uns auf die Fahnen schreiben. Vielleicht wurde er einfach nicht richtig sozialisiert? Vielleicht hat er die Anwesenheit von Artgenossen mit Unangenehmem verknüpft (zum Beispiel, weil er in der Vergangenheit aus Hilflosigkeit oder als gut gemeinter Erziehungsversuch für sein unerwünschtes Verhalten bestraft worden ist)?